Wenn zwei mal zwei grün ist

Stellen wir uns vor: Eine Klasse voller Kinder, neugierig, müde, gelangweilt, eingeschüchtert, trotzig, wissbegierig, ehrgeizig sitzt vor uns und wir fragen: Wieviel ist zwei mal zwei? Und ein Kind meldet sich und sagt: Grün!

Was nun?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Lächeln und die nächste Hand drannehmen. Ärgerlich erwidern, was der Unfug soll, wohlwissend, wir werden beobachtet bei der Antwort. Und zwar ganz genau. Ignorieren und unkommentiert weitermachen. Oder: Aufmerken und fragen: Warum? Ich meine, das könnte der Moment sein, in dem die allermeisten der wie auch immer gestimmten Kinder hellhörig werden. Und was könnten wir uns mehr wünschen, wenn wir es ernst meinen mit Schule, Erziehung und Unterricht, mit Bildung.

Die Idee, ein Kind könnte diese Antwort geben, stammt nicht von mir, sondern von Heinz von Förster. Es geht um die probehalber Öffnung für die Vorstellung, ein Kind könnte als Begründung anfangen, etwas zu erzählen. Etwas, das für dieses Kind sinnvoll erscheint, aus welchen uns noch unbekannten Gründen auch immer. Wir könnten, ausgehend von der Antwort auf das „Warum?“, aus der Mitte des Klassenraums heraus gemeinsam darüber nachdenken, wann eine Begründung überzeugend ist und wie Argumente zu prüfen sind. Ich kenne Lehrende, die solche Stunden als Sternstunden bezeichnen würden, weil man selbst immer wieder dazulernt, mit jeder Frage, mit jeder Irritation, mit jedem gemeinsamen Lösungsversuch. Warum das so ist? Heinz von Förster würde sagen: weil jeder Lehrende mit der prinzipiellen Nichttrivialität und Individualität seiner Lernenden rechnen muss.

Sprechen wir über Bildung und Digitalisierung, stellen wir fest, dass der Begriff der „Künstlichen Intelligenz“ zu einem ständigen Begleiter der Debatte geworden ist. Wir lesen und hören allerorten, welch große Chancen Digitalisierung und KI in sich bergen, wo sie uns überall entlasten kann, was sie uns abnehmen wird, ob wir wollen oder nicht, und – das ist für unsere Profession von besonderem Interesse – wie sie helfen kann, Lernprozesse effektiver zu gestalten. Denn nichts anderes erhoffen wir uns tagtäglich: den Schlüssel dafür, wie wir im besten Fall all die uns anvertrauten Lernenden gleichermaßen und gerecht fördern, individuell begleiten und auf einen guten Weg bringen können.

Eine KI jedoch ist bis jetzt noch eine triviale Maschine. Man kann sie für vieles sinnvoll nutzen. Und für vieles nicht. Lernende sind nicht-triviale Systeme. Insofern bleiben sie im Zweifelsfall für Algorithmen prinzipiell analytisch undurchschaubar.

Eine Schülerin, die auf besagte Frage „grün“ antwortet, würde im Mathe-Test durchfallen. Eine Klasse, mit der man über diese Antwort gemeinsam nachdenkt, würde aber teilhaben an einem vielleicht zunächst etwas ungewöhnlichen, aber am Ende ganz sicher interessanten Gespräch darüber, was eine eineindeutige Rechenoperation ist und was sprachliche Konvention, was und in welchen Fällen das eine oder das andere greift, wozu sie jeweils nutzbringend sind, und in welchen das eine oder das andere nicht weiterführt. So eine Erfahrung war es etwa, als ich für mich das Binärsystem von 0 und 1 in Abgrenzung zum Dezimalsystem erst einmal neu lernen musste. Da war 2 x 2 = ganz kurz ganz grün…

Was ich hier in den Diskursraum stellen möchte, ist die Frage, wie lange wir noch unhinterfragt der Annahme folgen wollen, digitale Tools seien in der Lage, Tests zu entwickeln, die wir zur Grundlage von didaktischen und pädagogischen Schlussfolgerungen machen können. Manchmal stelle ich mir ein Kleinkind vor, das zum ersten Mal ausprobiert, welcher Bauklotz welcher Form in welche Aussparung passt – wir versuchen hartnäckig, das Dreieck in die viereckige Öffnung zu zwingen und wundern uns nicht einmal darüber, dass das nicht klappt. Statt uns Bauklotz und Öffnung anzusehen, versuchen wir nun stoisch anhand von Zahlen und Studien und Trends empirisch zu belegen, dass das doch möglich sein muss: nicht-trivial Lernende durch triviale Systeme analysieren zu lassen. Ich befürchte, das Ergebnis wird mehr über den Test aussagen, als über die Lernenden. Test tests tests, nennt das Heinz von Förster.

Die Zukunft der uns verbleibenden demokratischen Gesellschaften hängt mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit, mit der Klimafrage und mit den Chancen auf ein menschenwürdiges Leben und diese alle mit der Frage der Digitalisierung eng zusammen. Wir können uns zwar nicht alle gleichzeitig auf all diesen Feldern gleichermaßen inhaltlich einbringen. Dennoch sollten wir uns als Lehrende selbst nicht kleinreden und es uns auch angesichts der Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, nicht kleinreden lassen, dass wir mit dieser Profession an einer Schlüsselstelle sitzen: Bildung wird darüber entscheiden, wie unsere Welt in Zukunft aussehen wird.

Wer, frage ich mich, ist in der aktuellen Diskussion über Bildung, eigentlich die Instanz, der man zuhört? Mir scheint, es ist keine Frage der Fachexpertise allein mehr, sondern auch der Aufmerksamkeitsökonomie in der digitalen Welt. Habermas sagt: Eine Kommunikation ist dann unverzerrt, wenn sie den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes zulässt und mit keinem Motiv außer dem der kooperativen Wahrheitssuche verträglich ist. Insofern setzt die Diskussion über Bildung ihrerseits Bildung voraus: als Fähigkeit, anderen zuzuhören, ihre Argumente zu prüfen, gegebenenfalls festzustellen, dass wir uns in diesem oder jenem Fall getäuscht haben, um auf dieser Basis neu kritisch Stellung zu nehmen, weil wir um etwas wissen, über das wir nun informierter sind als vorher, das wir anders einordnen und beurteilen können. Und: Wir sollten Zeit und Aufmerksamkeit reservieren für einen Dialog über Bildung und was wir uns darunter vorstellen.