Digitale Mündigkeit

  1. Das Erlernen der drei klassischen Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen ist weiterhin unabdingbar für die mündige Teilhabe an unserer Gesellschaft, um Meinungsbildungsprozesse verstehen und an ihnen selbstbestimmt mitwirken zu können. Um so mehr müssen diese Techniken auch in einer Schule mit digitaler Umgebung nachhaltig und ausdauernd im Fokus bleiben und gerade sozial Benachteiligten durch anhaltende Förderung zur selbstverständlichen Übung und Praxis werden.
  2. Neu hinzu kommt eine informatische Grundbildung, die mehr beinhaltet als das Erlernen bestimmter Programmiersprachen, deren Halbwertszeiten ohnehin immer kürzer werden. Das Wissen um und die kritische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von Algorithmen in digitalen Rechenprozessen halten wir als Bildungsgegenstand für unabdingbar, um in der digitalen Welt mündig zu bleiben. Nur so lassen sich Macht- und Marktmechanismen durchschauen, die sich in der digitalen Welt mehr oder weniger sichtbar zu etablieren begonnen haben.
  3. Basis für das Erlernen dieser Kompetenzen ist für uns das Philosophieren als Methode, über die man Lernprozesse nachhaltig und wirksam initiieren kann: Wenn wir nicht lernen – als Lehrende wie als Lernende – die richtigen Fragen zu stellen, Prämissen zu prüfen und Fehlschlüsse zu durchschauen, sind wir nicht in der Lage, differenzierte und begründete Urteile zu fällen. Diese aber sind Voraussetzung dafür, die Zukunft, in der wir leben wollen, sinnvoll mitzugestalten.

Was wollen wir vermitteln?

Unsere Überzeugung ist, dass auch in einer zunehmend digitalisierten Welt Wissen die Basis bleibt, um sich orientieren, verständigen und urteilen zu können.

Angesichts der weiterhin kontrovers geführten Auseinandersetzung um die Frage, ob es einen Bildungskanon gibt oder nicht, heißt die Frage, die für uns zur Debatte steht: Gibt es für dieses Orientierungswissen einen festen Bestandteil an notwendigen Kenntnissen – und welche sollten das sein? Die Digitalisierung hat dazu geführt, eine kanonische Festlegung zum Bildungskanon in Frage zu stellen: Mit dem Internet erscheint Wissen jederzeit uneingeschränkt verfügbar. Entscheidend sei darum nicht mehr das Wissen im eigenen Kopf, sondern die Kompetenz, das je gesuchte Wissen im unendlichen Wissensspeicher des World-Wide-Web in der vorgegebenen Zeit finden zu können.

Doch ist die mühsame Aneignung von Wissen damit tatsächlich endgültig lächerlich geworden, wie es der Philosoph Michel Serres in seiner Liebeserklärung an die vernetzte Generation (2013) zuspitzt? Uns scheint, dass sich in dieser Aussage ein entscheidendes Phänomen widerspiegelt, dem alle Lehrenden unterworfen sind: Je selbstverständlicher uns die Gegenstände unseres Unterrichtens auf Dauer werden, um so stärker verliert sich das Bewusstsein dafür, was Schülerinnen und Schüler als Orientierung zum Wissenserwerb brauchen.

Wir gehen wir davon aus, dass wir im Zuge der Digitalisierung zukünftig unsere derzeitigen Wissensbestände sehr viel schneller auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler anpassen müssen. Als Grundkanon des zu vermittelnden Orientierungswissens definieren wir jenes Wissen, das für die Gesellschaft und die Kultur, in der wir leben, gemeinschaftlich konstitutiv ist. Welchem Wissen dieser Anspruch zukommt, muss dabei in einem offenen Austausch zwischen allen Beteiligten der Schulgemeinschaft neu und grundständig diskutiert werden. Dabei geht es uns nicht darum, den Schülerinnen und Schülern, die Digitalisierung an und für sich zu erklären, sondern wie sie in den unterschiedlichen Fächern und Sozialgebieten ihre Wirkung entfaltet.

So erscheint uns das Erlernen fachspezifischer Wissensbestände und ihre Einbettung in übergreifende Zusammenhänge nach wie vor unverzichtbar. Die Methode der Philosophie leistet die Verknüpfung, um individuell, fächerübergreifend und interdisziplinär die Phänomene der digitalen Welt in den jeweiligen Spezialgebieten – von der Mathematik über die Kunst bis zum Fremdspracherwerb zu vermitteln. In einer Welt des radikalen Wandels wird die Philosophie heute zur neuen Basiskompetenz, um sicheren Grund für die Fächer zu wahren: Gerade angesichts des noch fehlenden gesicherten Spezialwissens über die zukünftigen Entwicklungen der digitalen Welt und ihre Auswirkungen auf unser Leben, ist die Fähigkeit, ein eigenes Urteil bilden zu können, Abstraktionsvermögen zu entwickeln und die Fähigkeit zu logischem Denken auszubilden (Julian Nida-Rümelin, 2019) Grundvoraussetzung für Mündigkeit in der digitalen Welt.

Wem wollen wir es vermitteln?

Für diese Frage halten wir ein neues Bewusstsein darüber, wer eigentlich die Lernenden des 21. Jahrhundert sind, für unabdingbar: wir alle! Die Erfahrungen, die wir im Kontext der Digitalisierung machen, das Erleben und Wahrnehmen scheint für uns alle gleichermaßen neu, Lehrende wie Lernende. Aus diesem Grund geht aus unserer Sicht die in der öffentlichen Debatte immer wieder zu hörende Unterscheidung zwischen Digital Natives und Digital Immigrants fehl. Zunächst bleibt zu unscharf, was einen Menschen auszeichnet, um zu der einen oder anderen Gruppe zu gehören. Zudem sind wir alle gleichermaßen mit den Phänomenen und den damit einhergehenden Folgen der digitalen Welt konfrontiert. Nicht zuletzt sind Phänomene in der digitalen Welt zu neu, zu unerforscht, zu raschem Wandel unterworfen.

Kaum glauben wir, etwas verstanden zu haben, wird es von einem neuen Sachverhalt eingeholt. Informiert werden wir darüber zur gleichen Zeit zumeist über das Medium, das wir zu verstehen und hinterfragen suchen. Dass hieraus Verwirrung erwächst und Verunsicherung, kann nicht überraschen, sollte aber aus unserer Sicht zugelassen und zur gemeinsamen Diskussion geöffnet werden. Dafür genau muss Schule da sein, wissend, dass die heutigen Generationen von Schüler/innen nicht mehr dieselben historischen Erfahrungen teilen wie diejenigen, die noch vollständig analog aufgewachsen sind. Die hieraus resultierenden Unterschiede sind gravierend und beinhalten weit mehr als die Frage nach der Versiertheit in Toolkompetenz.

Wie wollen wir es vermitteln?

Wir halten es für wesentlich, dieses Orientierungswissen mittels der Methode der Philosophie dort zu diskutieren und zu vermitteln, wo die das Thema unmittelbar betreffenden Menschen aus eben diesem Grund zusammenkommen: ganz lokal, vor Ort, in der Schule selbst. Nicht erst seit Hatties großangelegter Meta-Bildungsstudie von 2009 wissen wir: Es ist nicht die Methode, es ist die Glaubwürdigkeit und Beziehungsfähigkeit der Lehrperson, die darüber entscheidet, ob Unterricht gelingt und eine Methode wirksam wird oder nicht. Lernende sind so wenig wie Lehrende triviale Maschinen. Was bei den einen klappt, muss noch lange nicht auf die anderen übertragbar sein. Dennoch scheinen die Algorithmen in der Bildungsforschung ihren Siegeszug gewonnen zu haben, wenn wir annehmen, Zahlen könnten Lernprozesse abbilden. Wir teilen diese Prämisse nicht.

Mit Blick auf die Digitalisierung ist für uns insofern mit Roberto Simanowski die Frage nach der richtigen Methode nicht eine danach, wie wir digitale Lernumgebungen gestalten, sondern wie es uns gelingt, motivierende Diskussionssituationen zu schaffen (in: Stumme Medien, 2018). Denn, auch das wissen wir als Lehrende: Die größte Motivationsdroge für den jungen Menschen ist der andere Mensch!