Michel Serres: Erfindet euch neu! – Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin: Suhrkamp 2013

Michel Serres führt uns in seiner kurzen Streitschrift die Trennlinien zwischen den heutigen Schülergenerationen und ihren Lehrenden vor Augen. Es geht Serres keineswegs nicht darum, über Kultur- und Werteverlust zu klagen, sondern um fundamental andere Internalisierungen: Heutige Schüler/innen haben keinen Krieg erlebt, sind in der Mehrzahl Wunschkinder ihrer im Schnitt sehr viel älteren Eltern. Sie werden statistisch gesprochen weniger als all ihre Vorfahren gelitten haben. Sie haben nicht mehr den gleichen Körper und nicht mehr den gleichen Lebenswandel. Es geht um fundamental andere Internalisierungen. Dazu schlagen jetzt die Phänomene der Digitalisierung voll durch und trennen die Generationen womöglich noch tiefgehender.

Wir müssen uns laut Serres darüber bewusst werden, dass jede Literatur, jede Geschichtsschreibung anders gelesen, anders verstanden wird, weil das Geschriebene einen Konsens an Weltwahrnehmung voraussetzt, an Sinneserfahrung, an Fokus, den wir ihr zu Grunde legen. Wir müssen verstehen, dass wir, die Lernenden und Lehrenden, aus einer scheinbar gänzlich unterschiedlichen Welt kommen. Wenn heutige Schüler/innen auf die Frage, welche Möglichkeit es in den 1980ern gab, um bei einem Unfall auf der Autobahn lebensrettende Maßnahmen zu organisieren, sich nicht mehr vorstellen können, dass es kein Handy gab, ist das mehr als eine amüsante Anekdote. Es illustriert, dass wir keinen Blick auf historische Reihenfolgen mehr voraussetzen können, da sich der Blick auf Vergangenheiten radikal beschleunigt hat.

Ob das alles in dieser Dimension zutrifft, muss offen bleiben. Gleichwohl sehen wir heute bereits, dass sich die Schule auseinandersetzen sollte, ob Lehrende und Lernende noch von dem gleichen sprechen, wenn sie von dem scheinbar Gleichen sprechen. Serres‘ Analyse macht uns bewusst, dass wir dies bei all unseren Überlegungen zur Bildung mitdenken müssen. Die von uns Adressierten, so hält er fest, sind formatiert durch Bedingungen, die wir noch nicht kannten und zugleich selbst mit verursacht haben.

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