Gedanken zur Bildung in „Corona“-Zeiten #2

Ralf Pauli und Heike Schmoll äußern sich zu Bildungsgerechtigkeit angesichts von Home-Schooling, meinen aber nicht das Gleiche…

Seit einer Woche sind die Schulen nun geschlossen. Eine Woche Homeschooling. Der Grundschulverband zieht eine positive Zwischenbilanz: Die erste Woche sei überwiegend ruhig verlaufen. Wie hätte sie auch sonst verlaufen sollen. Leere Schulgebäude sind ruhige Schulgebäude.

Werfen wir einen Blick darauf, was derzeit aus den unterschiedlichen Perspektiven berichtet wird, ergibt sich ein erwartbares heterogenes Bild. So schildert die Mutter dreier Grundschulkinder aus dieser ersten Woche: Der Wochenplan fängt an einem Montag an, obwohl die Schulschließung ab Dienstag losgeht, das verwirrt ihr gewissenhaftes Kind die ganze Woche, weil das Wochenpensum dadurch eigentlich einen Tag zu viel umfasst. Die angegebenen Aufgaben im Schulbuch sind den Kindern teilweise unklar, sie lesen sie nicht sorgfältig, sondern schreiben drauflos – die Lehrerin aber fehlt zur notwendigen Erläuterung. Hinzu kommt, dass die Kinder bei allem Ehrgeiz nicht wie Maschinen alles abarbeiten, sondern ihre Lebenswelt ständig einbeziehen („beim Lernen Hörbuch hören, essen, trinken, auf dem Sofa liegen etc.“), Lehrer ihrerseits beziehen diese Lebenswelt der Kinder nicht in die Aufgaben mit ein. Darüber hinaus: Es gibt keinerlei Motivationsangebote von den Lehrerinnen, wie z.B. „Ich freue mich schon darauf, deine Geschichte zu lesen“ etc.  Vielmehr gehen die Lehrer davon aus, dass die Kinder intrinsisch motiviert sind.

Eine andere Mutter schreibt: „Es geht mehr um einen Tagesrhythmus und Rituale, die allen Spaß machen. Bei uns ist zum Beispiel gegen elf Uhr immer Vorlesezeit und die Kinder bekommen einen Smoothie dazu.“ 

Aber es gibt auch realistische Beschreibungen wie derjenige von Heike Schmoll aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. März 2020 mit Blick auf die Brennpunkt-Kieze: „Dann sit­zen oft sie­ben Kin­der und meh­re­re Er­wach­se­ne in be­eng­ten Drei­zim­mer­woh­nun­gen. Rück­zugs­mög­lich­kei­ten oder gar Kon­zen­tra­ti­on sind aus­ge­schlos­sen. Die El­tern, des Deut­schen oft nicht mäch­tig, kön­nen nicht oder nur wenig hel­fen, und sie wer­den es auch kaum schaf­fen, die un­ter­richts­frei­en Tage so zu struk­tu­rie­ren, dass kon­ti­nu­ier­li­ches Ler­nen er­mög­licht wird.“ 

Angesichts solcher sozialen Wirklichkeiten erscheint die offizielle Empfehlung des Grundschulverbandes wie ein Wunsch aus einer anderen oder sagen wir sozial wie von der Herkunft homogen erträumten Welt: „Lassen Sie die Kinder kreativ werden: mit Trickfilm-Apps (z.B. für Stop-Motion-Filme oder für Greenscreen-Filme), Buchgestaltungsapps (z.B. BookCreator), Musikproduktionen (z.B. Garageband) oder mit Hörspielproduktionen (Ideen unter www.Ohrenspitzer.de). Nutzen Sie die Zeit, um Kinder dabei zu unterstützen, im Umgang mit dem Handy, Tablet oder PC sicherer zu werden. Lassen Sie die Kinder programmieren (z. B. mit der App Scratch Jr), Geschichten mit PowerPoint erzählen, Videos drehen und bearbeiten …

Und dann gibt es natürlich auch noch die kritischen Stimmen aus einem ganz anderen Blickwinkel. Der digitale Unterricht bevorzugt jene, die ohnehin privilegiert sind, schreibt Ralf Pauli gestern in der TAZ. Diesen Gap mit ins Auge fassen, erscheint ganz sicher das Gebot der Stunde, weil ernsthaft zu befürchten ist, dass er sich zu allem Überfluss nun auch noch zu einem zunehmend tiefen Graben manifestieren wird. Bildungserfolg hängt schon jetzt in Deutschland stark von der sozialen Herkunft der Schüler:innen ab, das wissen wir. Dass nun das sogenannte E-Learning diese soziale Ungleichheit noch verstärken wird, ist das Gegenteil dessen, was man sich von den Möglichkeiten der Digitalisierung erwartet und bereits vielfach verkündet hat.

Die Chance, hierauf ein gesellschaftliches Augenmerk zu legen, vergeben wir, wenn wir der Argumentation von Herrn Pauli folgen und davon ausgehen, die Privilegierung liege, allein in der technischen Ausstattung. Viele Familien, so erklärt er sicher zutreffend, hätten zu Hause weder Laptop noch Tablet, an denen die Kinder arbeiten können. Seine Schlussfolgerung allerdings greift beunruhigend kurz: Wohlhabendere Familien mit eher akademischem Background seien bei der Umstellung auf digitalen Unterricht privilegiert, weil sie über genügend smarte Geräte und eine gute Internetverbindung verfügten. Festzuhalten ist wohl eher: Wenn das alles wäre, hätten wir eine entscheidende Sorge weniger. Denn Ausstattung kann man im Zweifelsfall finanzieren oder zur Verfügung stellen.

Der Punkt, der uns viel mehr Sorgen machen sollte und den wir ernsthaft klären müssen in diesen Tagen, ist aber doch ein ganz anderer. Ja, das soziale Auseinanderdriften aufgrund unterschiedlicher Bildungschancen wird größer werden, wenn wir meinen, die vermeintlich positiven Erfahrungen des E-Learnings angesichts von Corona wären auch in Nach-Corona-Zeiten das entscheidende Erfolgsrezept. Aber: Nein, das Kernproblem ist hierbei nicht die unterschiedliche technische Ausstattung in den Familien, sondern die unterschiedliche Ausstattung mit sozialen, kognitiven, kommunikativen und verantwortungsbewussten Unterstützungskompetenzen! Kinder aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern fehlt nicht das Tablet, sondern ein Mensch als Bezugs- und Motivationsperson für Bildung. Als Anerkennungsinstanz, Ermutigende, Unterstützende, auch als Erziehende und Regeldurchsetzende. Und es fehlt ihnen der Sozialraum, es fehlen ihnen die anderen Kinder. Das ist, was wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen.

Corona zeigt nicht die Chancen, die mit den digitalen Möglichkeiten auch im Bildungsbereich erwachsen, die gab es auch vorher schon. So wie es die Begeisterungseuphorie derer gab, die meinen, damit sei das Bildungssystem zu retten: Problem erkannt, Problem gebannt – Glasfaserkabel gelegt, Tablets gekauft.

Corona sollte uns vielmehr die Augen öffnen, wie gefährlich es ist, Kinder alleine zu lassen beim Lernen und Großwerden. Es sollte dem Klassenraum wieder die Anerkennung zuteilwerden lassen, die ihm zusteht: als gemeinsamer sozialer Erfahrungs- und Schutzraum für alle, begleitet von Pädagog:innen als echten Bezugspersonen. Digitale Bildung braucht immer noch diejenigen, die sie im Zweifel da sind und Fragen klären können.

R. Pauli: https://www.taz.de/!5670367

H. Schmoll: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/unterricht-in-der-corona-krise-digitales-lernen-zu-hause-16691338.html