Gedanken zur Bildung in „Corona“-Zeiten #1

Warum Abitur? … fragt sich Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 20. März 2020

Wir wissen, dass immer mehr Bundesländer ihre Abiturprüfungen verschieben – Stand heute, dessen Halbwertszeit wir aktuell nicht kennen, kaum ahnen können. Längst hat uns das Tempo der Entscheidungen in einen Zustand des stoischen Abwartens, was alles noch kommt, versetzt. Seine Frage ist berechtigt. Aber in Wirklichkeit ist sie ja nicht neu und hätte längst den Diskurs bestimmen sollen. Tut sie aber nicht. Warum nicht? Das erscheint mir eine spannende Überlegung. Und diese Frage lässt sich wohl auf so vieles übertragen: Was haben wir uns alles erklären lassen, warum es keine Möglichkeit gibt, aus den Klimadaten radikale Konsequenzen zu ziehen? Schau an, das Wasser in Venedigs Kanälen ist wieder klar. Das Flugaufkommen kann man nicht von jetzt auf gleich reduzieren, schon gar nicht durch politische Sanktionierung? Schau an.

In dieser Situation die Frage zu stellen, warum Abitur?, erscheint, so sehr die grundsätzliche Kritik Herrn Kaubes zu teilen ist, in der aktuellen Situation fast wohlfeil. Wir wissen, dass das „Reifezeugnis“ jegliche Aussagekraft als reales Dokument für den Grad der Reife der erreichten „Bildung“ (die ja zum Studium befähigen soll) eines jungen Menschen längst eingebüßt hat. Warum wir uns diese Frage nicht stellen? Weil wir im Bildungsföderalismus leben. All jenen, die meinen, es gebe so etwas wie einen nivellierenden Aufgabenpool der Länder, aus dem jedes Land Aufgaben entnimmt und damit das Abitur gleichwertiger werde, möchte man zurufen, dass es an der hohen Zeit ist, aus dieser Naivität zu erwachen. Der Abituraufgabenpool der Länder ist ein mühsamer Versuch, das Abitur durch gleiche Aufgaben gleich zu machen – dabei lautete der Auftrag des Verfassungsgerichts: gleichwertig. Wir alle wissen, dass Noten auch bei gleichen Aufgaben ungleich vergeben werden. Aber nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern bereits zwischen den einzelnen Schulen aller einzelnen Länder. Und auch das ist nicht neu. Auch nicht, dass es bereits innerhalb der gleichen Schule die Frage ist, in welchem Kurs man war, um die Aussagekraft der „Note“ einschätzen zu können. Das ist uralt. Das kennen wir bereits aus unserer eigenen Schulzeit. Und wer glaubt, ein Algorithmus könne das in Zukunft mit größerer Objektivität lösen, dem sei aufmunternd zugelächelt.

Es ist ein durchaus sinnvoller Vorschlag von Herrn Kaube, Eingangsprüfungen an den Universitäten durchzuführen. Aber dieser Vorschlag hat längst graue Haare bekommen. Warum er nie gehört wurde? Weil es dafür eine finanzielle und personelle Ausstattung an den Universitäten bräuchte, um diesen Auftrag angemessen und gerecht realisieren zu können. Aber leider, so bedauernswert es ist: Fehlanzeige. Vor Corona genauso wie im Jahr 2020. Wir könnten darauf hoffen, dass 2021 alles anders sein wird, weil dann ohnehin alles anders sein wird, wie manche mutigen Stimmen in diesen Tagen anzunehmen wagen.  

Das Problem ist, dass der Hinweis, Abiturnoten seien nur begrenzt informativ, schon gar keine grauen Haare mehr hat, sondern längst eine Glatze. Der Neuigkeitswert dieser Nachricht geht gegen Null. Und während Generationen von Schülerinnen und Schülern damit zu leben gelernt haben, dass die dennoch daran gebundene Vergabe der Studienplätze eher ein Glücksspiel denn eine Bestenauswahl ist, sagen wir jetzt mit eine Mal wir lassen einfach die ganze Prüfung. Und ihr, die ihr bereits seit Jahren auf der Warteliste für die Medizinstudienplätze steht, habt leider Pech gehabt. Denn ihr müsst euch wieder hinten anstellen. Da ihr leider kein Corona-Jahrgang seid, werdet ihr somit erst mit  Glatze anfangen, Medizin zu studieren.

Wenn schon dem Zufall überlassen, dann wenigstens ganz: Warum die zur Verfügung stehenden Plätze nicht einfach per Losverfahren vergeben? Dann sind es wenigstens nicht die Eltern und Netzwerke, die entscheiden. Und wenn wir diesen Durchgang überstanden haben: Verbot an alle Beteiligten, stillschweigend zur Tagesordnung zurückzukehren, sondern endlich einen ehrlichen, fachlich fundierten und nicht politisch opportunen Diskurs darüber zu initiieren, welche Art Bildung wir eigentlich wollen – und welche Prüfungsformate sinnvollerweise dazu passen. 

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/verschobene-pruefungen-abitur-ein-notwendiger-sozialkontakt-16687149.html