Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?, Hamburg: Rowohlt 2019

Schule muss dafür da sein, Denken zu lernen – sie kann aus sich heraus aber keine soziale Ungleichheit beseitigen

Einen prononcierten Debattenbeitrag liefert derzeit Jürgen Kaube, Autor und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Kaubes Streitschrift bietet gut strukturiert viele bedenkenswerte Argumente, was derzeit im Bildungssystem vor allem durch Vertreterinnen und Vertreter der Bildungspolitik, Erziehungswissenschaften und auch der Wirtschaft nach seiner Meinung fehlgesteuert wird. Dabei will er zeigen, dass und wie die die Schulen mit der Lösung gesellschaftspolitischer Problemstellungen überfrachtet werden, um danach als Sündenbock für dasselbe Problem herhalten zu sollen.

„Aber was an Schulen und in der Erziehung tatsächlich der Fall ist, wird durch Übertreibungen, freihändig entwickelte Trenddiagnosen und eine Kombination aus Untergangs-und Rettungsvokabular nicht klarer: Bildungskatastrophe, Erziehungsnotstand, Pisa-Schock, digitale Demenz und so weiter. Das waren nur einige Beispiele für das Problem unserer Schuldebatten. Sie werden zu prinzipiell geführt. Sie beschwören Werte ohne Anschauung des Unterrichtsgeschehens, zünden Kerzen an, sobald das Wort «Bildung» fällt, operieren mit nahezu uninterpretierbaren Zahlen («520 Punkte in Lesekompetenz») und überziehen die Schulen mit Dutzenden von Sollenserwartungen, hinter denen sie nur zurückbleiben können, was die Debatte mit Daueralarm versorgt.“ (S. 22)

Besonders scharf setzt sich Kaube auch mit dem neuen Glauben an evidenz- und kompetenzbasierte Curricula in den Schulen auseinander, die zu wenig Freiheit, Anregung und Orientierung geben, um sich mit den angemahnten gesellschaftspolitischen Fragen überhaupt angemessen auseinandersetzen zu können:

Der Begriff «Kompetenz» und alle seine Ableitungen erinnern stark an den Arzt bei Molière, der auf die Frage, warum das Opium schlafen mache, antwortet: aufgrund seiner dormitiven Kraft. Wer ein Problem in die Form einer mathematischen Gleichung bringen kann, hat entsprechend eine «Mathematisierungskompetenz»; wer weiß, dass man mittels eines Registers nachzuschlagen vermag, wo im Buch etwas über Kiemenatmung steht, beweist «Selbstregulationskompetenz des Wissenserwerbs». Das ist nicht falsch, lässt aber zusätzliche Fragen aufkommen, etwa die, ob alles, was jemand kann, vermöge eines Vermögens geschieht, wie die Kompetenzen alle untereinander zusammenhängen und was es für den Unterricht besagen soll, dass einem Schüler beispielsweise die Kompetenz zugeschrieben wird, wichtige Worte in einem Text unterstreichen zu können. Um bei Molières Beispiel zu bleiben: Wenn jemand einschläft, nachdem er Opium eingenommen hat, könnte sein Schlaf immerhin noch auf etwas anderes zurückgehen als auf das Opium. Man muss «Opium eingenommen» hier nur durch «Dressurreiten angeschaut» oder «Paulo Coelho gelesen» ersetzen, um zu sehen, dass an die Zuschreibung eines dormitiven Vermögens sofort weitere Fragen anschließen: Was genau an Paulo Coelho macht dich müde? Was genau befähigt dich, in einem Text zu erkennen, welche Worte die wichtigen sind?“ (S. 89-90)

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